Wir wissen nicht erst seit der Corona-Krise: Unser medizinisches System muss digitaler werden. Das ist sicherlich keine neue Forderung, doch wegen der immer noch weit verbreiteten Vorliebe für das Fax-Gerät als Kommunikationsmittel, eine besonders dringende. Eine Umfrage, die der Digitalverband Bitkom gemeinsam mit dem Ärzteverband Hartmannbund in Deutschland Ende des vergangenen Jahres durchgeführt hat, zeigt: 63 Prozent der Mediziner kommunizieren weiterhin per Fax mit anderen Praxen, 57 Prozent nutzen das Fax zum Austausch mit Kliniken. Das (!) ist die Realität.
Wir haben erkennen müssen, dass die Realität, wie sie in unserem Gesundheitssystem vorherrscht, immer weniger mit den gesellschaftlichen Anforderungen, die an das Medizinsystem gestellt werden, übereinstimmt. Die Corona-Pandemie war diesbezüglich eine Stresssituation, die gezeigt hat, dass wir mit unseren veralteten Methoden nicht mehr hinterherkommen. Damit meine ich nicht allein die Möglichkeit eines schnelleren und besseren Datenaustausches (auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene), um pandemische Gefährdungslagen besser zu analysieren und zu verstehen.
Eine der größten Herausforderungen schien mir für Ärzte und Ärztinnen doch zu sein, zu erklären, einzuordnen, Vertrauen zu schaffen, auf die individuellen Probleme von Patienten und Patientinnen einzugehen. Genau dabei kann und werden uns die Digitalisierung, die Werkzeuge der künstlichen Intelligenz helfen. Sie werden uns Routineaufgaben abnehmen (und möglicherweise sogar besser erledigen als wir Menschen), sie werden Arbeitsabläufe strukturieren und verbessern – und Ärzten und Ärztinnen mehr Zeit geben, sich um die Vermittlung der Medizin im direkten Kontakt mit Patienten zu kümmern. So paradox es sich anhört: Digitalisierung ist eine Chance, die Medizin humaner, menschfreundlicher zu machen.
Nehmen wir ein Beispiel. Kaum eine Berufsfeld ist in den letzten Jahren schon so durch die Digitalisierung verändert worden wie die Radiologie. Künstliche Intelligenz kann schon heute in der Radiologie eine Vorauswahl beispielsweise bei einem Screening übernehmen. Was spricht dagegen? Dadurch ändert sich die Rolle, die Radiologen und Radiologinnen in Zukunft übernehmen können (oder sollten). Sie werden zu den Personen, die Daten erklären. Mit ihrer spezifischen Kompetenz haben sie die Möglichkeit zu vermitteln und Komplexes verständlich zu machen. Vor allem natürlich gegenüber Patienten und Patientinnen, die oftmals Erklärungen und Halt im allzu unpersönlichen Medizinsystem suchen. Aber auch beispielweise gegenüber der Öffentlichkeit – um Chancen und Risiken von digitalen Entwicklungen aufzuzeigen, auch Vorbehalte und zu große Hoffnungen gegeneinander abzuwägen.
Digitalisierung ist eine Mammutaufgabe, keine Frage. Schon allein, weil sie ein vielschichtiges Thema ist. Das Gesundheitssystem ist komplex. Der Austausch von Informationen passiert auf vielen Ebenen, unterschiedliche Akteure, die mehr oder weniger große digitale Kenntnisse haben, sind daran beteiligt. Und natürlich spielen auch langfristige Zertifizierungs- und Genehmigungsverfahren, eine strenge Auslegung des Datenschutzes sowie der hohe Aufwand für IT-Sicherheit eine Rolle. Das sind allesamt Aspekte, die beachtet werden müssen – deren Lösung aber nicht mal eben zu haben ist.
Digitalisierung hat eben auch viele Facetten. Sie meint ja nicht nur die Tatsache, dass Patienten sich einen Termin online in einer Praxis organisieren oder an einer Videosprechstunde teilnehmen können. Zur Digitalisierung gehört ebenso die derzeit viel diskutierte elektronische Patientenakte, auf der zentral alle Gesundheitsdaten gespeichert sind – was Doppeluntersuchungen vermeiden oder aber sicherstellen kann, dass keine wichtige Untersuchung vergessen wurde. Oder digitale Gesundheitsanwendungen, die bei verschiedenen Erkrankungen wie Depressionen, Diabetes oder Rückenschmerzen helfen können. Natürlich auch die Telemedizin, die mehr Einsatzmöglichkeiten bietet, vor allem in ländlichen Gebieten oder bei Facharztmangel. Außerdem: Durch digitale Zusammenarbeit aller Fachgebiete lässt sich auch die Nachsorge und die Suche nach Anschlussbehandlungen nach einem stationären Aufenthalt im Krankenhaus besser organisieren. So geschieht das – unter Führung der Hausärzte – bereits in Dänemark – ein Blick dorthin lohnt sich
Alle diese Beispiele (von denen es noch eine ganz Reihe weiterer gibt) zeigen: Digitalisierung hilft uns, Abläufe zu verbessern, Prozesse einfacher zu machen, Diagnostik und Therapie genauer, auf den Patienten abgestimmter zu gestalten. Das nutzten – im angepassten Maße – schon heute Menschen, die über Apps und Wearables ihre eigenen Gesundheitsdaten messen. Es muss uns gelingen, diesen digitalfreundlichen Ansatz auf ein ganzes System zu übertragen. Weil die Vorteile, die sich darauf ergeben, einfach überzeugend sind.
Allerdings muss es uns diesmal auch gelingen, alle Menschen auf diesem Weg mitzunehmen. Nur, wenn wir selbst von den Vorteilen überzeugt sind, können wir auch andere überzeugen. Außerdem müssen wir für diejenigen, die mit digitaler Kommunikation Probleme haben, natürlich Hilfen anbieten und weiter auch die herkömmlichen Wege zur Verfügung stellen. Und wer Zweifel an den Segnungen von Big Data hat, wer skeptisch ist, dass Daten missbraucht werden könnten oder Angst davor, dass zu viele Daten gesammelt werden, muss dies anbringen können. Nur wenn wir uns darüber austauschen, uns erklären, werden wir zu einer Entwicklung kommen, die wir alle tragen – und die uns allen hilft.
Was sicherlich auch stimmt: Es wäre falsch, in der Digitalisierung die Lösung aller Probleme im Gesundheitswesen zu sehen. Es wäre ebenso falsch, davon auszugehen, dass ein einmal eingeführtes System über Jahre alle Anforderungen erfüllen kann. Doch meine Hoffnung ist: Digitalisierung kann uns helfen, die vorhandenen Ressourcen effizienter einzusetzen und so die Medizin zu verbessern. Sie hat alle Voraussetzungen dazu, den Menschen in der Medizin wieder mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Das muss es uns wert sein.